Klimawandel in den Alpen Bergbewohner auf der Flucht nach oben
In den Alpen wirken sich Veränderungen des Klimas besonders deutlich aus. Lawinen und Muren gehen häufiger nieder, in den Tälern wird das Trinkwasser knapp. Und für viele Tiere und Pflanzen heißt es: Immer höher hinauf!
Für den Klimaschutz sind die Alpen wie ein europäisches Frühwarnsystem: An ihnen zeigt sich, worauf sich der Rest des Globus einzustellen hat. Denn nirgendwo ist der Klimawandel so stark messbar wie im Alpenraum. Hier sind die Temperaturen in den vergangenen 100 Jahren mit 2 Grad Celsius doppelt so stark angestiegen wie im globalen Durchschnitt. Seit 1970 hat sich das Klima in den Alpen um ca. 1,8 Grad Celsius erwärmt.
In manchen Alpenregionen könnten künftig die Trinkwasservorräte knapp werden, auch Hochwasser, Lawinen und Geröllmuren werden immer mehr zur Gefahr. Jedes Grad Temperaturveränderung hat zudem fatale Folgen für die stark an ihren extremen Lebensraum angepassten Pflanzen und Tiere.
Pflanzen und Tiere müssen die Alpen hochklettern
Ein Temperaturunterschied von nur einem Grad im Jahresdurchschnitt entspricht in den Bergen einem Höhenunterschied von 200 Metern. Die Klimaerwärmung bedeutet für die Fauna und Flora der Bergwelt also, dass sie mitklettern muss, immer weiter nach oben. Das Problem: Nicht alle Lebewesen des Alpenraums können so einfach nach oben "umziehen", nur weil es ihnen in ihrer ursprünglichen Höhe zu warm geworden ist.
Da starke mikroklimatische Unterschiede zwischen Norden und Süden festzustellen sind, ist es zudem denkbar, dass Arten von der Alpennordseite auf die Alpensüdseite wandern.
Alpen werden langsam grün statt weiß
Nach oben zieht es durch den Klimawandel aber auch Arten, die es dort vorher nicht gab: Oberhalb der Baumgrenze hat im Großteil der Alpenregionen der Pflanzenwuchs deutlich zugenommen, zeigte eine Studie im Juni 2022. Dabei werden spezifische alpine Lebensräume umgewandelt, wenn dichter Pflanzenwuchs dort auftritt, wo es vorher karg war. Die Vegetationszonen breiten sich aus. Zugleich dringen Pflanzen in die höheren Lagen vor, die es dort nicht gab - und bedrohen die alpine Flora mit Verdrängung. Und mehr Grün in höheren Lagen treibt seinerseits den Klimawandel weiter voran: Es wird mehr Sonnenlicht absorbiert statt reflektiert, die Temperaturen steigen dadurch weiter an. Und wo plötzlich Wälder stehen, bleibt weniger Schnee liegen.
Viele Arten passen sich zu langsam an
Tiere und Pflanzen der Alpenregion sind durchaus in der Lage, sich neuen Gegebenheiten anzupassen - häufig aber nicht so schnell, wie der Klimawandel voranschreitet. Das zeigt eine Studie der Schweizer Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und des Französischen Centre national de la recherche scientifique (CNRS), die 2021 im Fachjournal Biological Reviews erschien.
Laut Studie hat sich der Beginn des Frühlings in den vergangenen Jahrzehnten nach vorne verschoben. Reptilien, Zugvögel, Pflanzen und an Land lebende Insekten wie zum Beispiel Schmetterlinge haben am stärksten auf diese Veränderung reagiert und ihre ersten Aktivitäten im Frühling um durchschnittlich zwei bis acht Tage pro Jahrzehnt nach vorne verschoben. Bei anderen wiederum gab es keine oder nur unwesentliche zeitliche Verschiebungen: Amphibien, Wasserinsekten (zum Beispiel Libellen) und hier lebende Vögel.
Die Forscher befürchten nun, dass sich die verschiedenen Arten in ihren Aktivitäten zeitlich nicht mehr aufeinander abstimmen könnten. Dies sei für den langfristigen Fortbestand der Arten als Teil eines Ökosystems bedrohlich.
Forschungsschwerpunkt „Alpen und Klimawandel“
Um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Artenvielfalt in den Alpen zu untersuchen hat die Technischen Universität München (TUM) gemeinsam mit dem Nationalpark Berchtesgaden 2021 ein gemeinsame Forschungsprojekt gestartet. Zwar betrifft der Klimawandel alle Ökosysteme, doch gerade in den Bergen gibt es unterschiedliche Tendenzen, da die Lufttemperatur mit der Höhe zu- oder abnimmt und durch Unterschiede in Nord- oder Südlagen. Ziel der Studie ist es, darüber Daten zu sammeln, welche Arten in welcher Höhenstufe vorkommen und welcher Vegetationstypen es gibt. Auf dieser Datenbasis wollen die Wissenschaftler untersuchen, ob und welche Veränderungen es im Nationalpark Berchtesgaden durch den Klimawandel gibt. Zusätzlich wurde für diesen Themengebiet an der TUM ein neuer Lehrstuhl für "Ökosystemdynamik und Waldmanagement in Gebirgslandschaften" geschaffen. Hier soll vor allem die Veränderung der Ökosysteme in den Bergen systematisch beobachtet werden.
Für Murmeltiere wird der Boden zu dünn
Murmeltiere, die in der Eiszeit in weiten Teilen Deutschlands lebten, reagieren empfindlich auf die Wärme und weichen schon jetzt in höhere Regionen der Alpen aus. Doch in größeren Höhen wird der Boden dünn: Die Humusschicht reicht irgendwann nicht mehr aus, um genügend tiefe Höhlen für einen sicheren Winterschlaf zu graben.
Ähnlich ergeht es kleinen Insekten wie Köcherfliegenlarven, Hakenkäfer oder Stelzmückenlarven, die in Bergquellen leben. Denn weiter oben gibt es keine Bergquellen mehr.
"Das bedeutet für die Quellen, dass da wahrscheinlich dramatische Änderungen vor sich gehen werden. Das Problem ist, dass die Temperaturschwankungen in den Quellen normalerweise zwei bis drei Grad betragen. Hier in diesem Gebiet [Nationalpark Berchtesgaden] haben wir ungefähr 800 Tierarten gefunden, wovon 250 Tierarten an diese Temperaturschwankungen angepasst sind. Die werden aussterben, wenn sich die Temperaturen um vier Grad erhöhen."
Helmut Franz, ehemaliger Sachgebietsleiter Forschungs- und Informationssysteme, Nationalpark Berchtesgaden
Neue Bewohner auf der Alpennordseite
Die Tierwelt bei uns wird aber auch bereichert: Aus Südeuropa wandern viele Arten ein, denen es früher bei uns zu kalt gewesen ist. So sind exotische Insekten wie die Gottesanbeterin bereits im Allgäu gesichtet worden, außerdem der Bienenfresser, ein bunt schillernder Vogel, der aus den Tropen eingewandert ist. Wie die einheimische Tier- und Pflanzenwelt mit den eingewanderten Arten - Neozoen und Neophyten - zurechtkommt, wird sich zeigen.
Der Boden schwindet
Humus & Wiesen
Bayerns Bergwälder haben seit den 70er Jahren 14 Prozent an Humus verloren, zeigt eine Studie der Technischen Universität München (TUM). Ausgewertet wurde dafür Datenmaterial von 35 Gebirgswäldern und Almwiesen aus zwei voneinander unabhängigen Untersuchungen. Besonders dort, wo der Temperaturanstieg durch den Klimawandel besonders hoch war, ging viel der fruchtbaren Erdschicht verloren. Ein Teufelskreislauf, denn durch den Humus-Verlust reagieren die Wälder empfindlicher auf steigende Temperaturen. Schrumpfende Wälder führen aber wiederum zu vermehrter Erosion - und schwindendem Boden.
Auch die Fauna ist auf der Flucht
Auf die Zusammensetzung der Pflanzenwelt haben in den sensiblen Bergregionen schon geringste Temperaturveränderungen einen tief greifenden Einfluss. Manche Pflanzen passen sich besser an die veränderten Bedingungen an als andere: Die sogenannten Generalisten werden weniger Probleme haben als die Spezialisten.
Problematisch wird es dennoch für einige Bewohner des obersten Stockwerks wie den Bayerischen Enzian, den Gletscher-Hahnenfuß oder den Moos-Steinbrech. Sie können nicht mehr weiter nach oben ziehen. Außerdem nehmen die Zuzügler von unten, die oft größer sind, das Licht. Einige Pflanzen werden wohl ganz aussterben.
Die Bergsteiger unter den Pflanzen
Alpen-Wälder werden sich verändern
Die Fichten-Monokulturen der Alpen haben kaum eine Chance aufs Überleben, sie können sich zu schlecht anpassen. Auch die Weißtanne wird sich in den Alpen vielleicht nicht mehr halten können. Zusätzlich breiten sich Schadinsekten wie der Borkenkäfer aus und vernichten bestimmte Baumarten. Dennoch überlebt der Wald, auch wenn er anders aussehen wird. Grundsätzlich können viele Pflanzen vor der Wärme fliehen, sie brauchen nur genügend Zeit:
Buchen zum Beispiel könnten in ein paar Jahrzehnten bis zu 400 Meter höher am Berg wachsen. Andere Arten wie die Latschenkiefer wachsen weiter hinauf in größere Höhen, sofern sie genug Wasser bekommen. Manche Forscher schätzen, dass die Waldgrenze in den Bergen bis zum Jahr 2050 um mehr als 1.000 Höhenmeter steigen könnte.
Klimagrad-Studien: Veränderte Vegetationsphasen
Frühling, Sommer und Herbst dauern schon seit Jahren im Alpenraum länger als früher, das zeigte die Studie "Klimagrad" unter der Federführung der Technischen Universität München worden ist. Pro Grad Erwärmung verlängert sich die Vegetationsphase um etwa zwei Wochen. Doch milde Winter bedeuten nicht zwangsläufig, dass die Bäume früher grün sind. Viele Arten sind auf eine kalte Ruhephase angewiesen. Bleibt es mild, dann brauchen die Bäume eine noch höhere Frühlingstemperatur, um auszuschlagen.
In zwei Großprojekten - Klimagrad I und II - haben Forscher entlang eines engmaschigen Messnetzes in Höhen zwischen 700 und 1.800 Metern Daten gesammelt. Dabei wurden zum Beispiel Temperatur, Niederschlag und die Sonneneinstrahlung gemessen sowie die alpinen Gärten in Europa vernetzt.